Leseproben

Hier können Sie in dem schnuppern, was ich so übersetze. Viel Spaß!

David G. Haskell
Das verborgene Leben des Waldes
Kunstmann 2015

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis
(aus dem Englischen)

Für einen Moment nur erstrahlt der Himmel in Rosarot, dann flutet von Osten Gelb herein und lässt das Mandala erglühen. Als sich die Färbung Richtung Horizont zurückzieht, hinterlässt sie am übrigen Himmel ein milchiges Licht. Ein Rotaugenvireo begrüßt den Morgen mit exakt getakteten Pfiffsalven. Manchmal steigt sein Ton am Ende an: „Wo bin ich?“, dann wieder ab: „Da bist du …“. Der Vireo befragt den Wald, antwortet unermüdlich und setzt seinen Lehrvortrag noch in der Mittagswärme fort, wenn die anderen Vögel das Rednerpult längst verlassen haben. Und wie es sich für den Berufsstand ziemt, steigt er selten von den Höhen des Blätterdachs herab: Meistens kann man ihn nur anhand seiner hellen, wiederholten Rufe ausmachen. Zum Vireo gesellt sich ein Braunköpfiger Kuhstärling. Kuhstärlinge sind Nestschmarotzer, die ihre Eier in die Nester anderer Vögel legen. Von sämtlichen Elternpflichten befreit, können sie sich vollkommen dem Liebeswerben widmen. Das Männchen beschäftigt sich zwei bis drei Jahre damit, seinen Gesang zu perfektionieren: Sein Lied tönt wie flüssiges Gold, das hinabfließt, dann erstarrt und so schrill klingt, als stoße es an Stein – das wallende Fluten einer kostbaren Flüssigkeit, gepaart mit dem Klingeln von Metall.

Der Himmel leuchtet nun blau, und das Farbenspiel des Sonnenaufgangs ist im Osten zum pastellfarbenen Wolkenband verblasst. Unterhalb des Mandalas raspelt laut ein Roter Kardinal, jeder Ton das Wetzen eines Feuersteins. Die spröden Rufe kontrapunktieren das Kollern eines Truthahns unten im Tal. Der Wald hat das ferne Kollern verwandelt: Es klingt, wie Henry Thoreau sagt, „wie von einer Waldnymphe gesungen“. Die Vegetation wirft den Ton zurück und verdichtet ihn. Doch es ist die Zeit der Truthahnjagd, das Kollern könnte auch von menschlichen Nachahmern stammen, die auf der Suche nach Kulinarischem sind, und nicht von einem wahren Truthahn auf der Suche nach Liebe.

Die verblassenden Farben der Morgendämmerung gewinnen noch einmal an Kraft. Der Himmel glüht in Flieder und Narzissengelb: Die Wolken sind farbig geschichtet, wie bunte aufgetürmte Decken auf einem Bett. Weitere Vögel begrüßen den jungen Morgen. Das nasale onk der Spechtmeise trifft auf krächzende Krähen, ein Grüner Waldsänger murmelt in den Ästen über dem Mandala. Als die Farben unter dem glühenden Blick ihrer Mutter, der Sonne, dann vollständig verblichen sind, singt eine Walddrossel ihr Lied: der krönende Abschluss des Morgenkonzerts. Ihr Singen scheint aus einer anderen Welt herüberzuwehen, so ruhig und rein, dass ich mich durch seine Anmut geläutert fühle. Dann ist ihr Lied vorbei, der Vorhang fällt, und ich bleibe mit meiner verlöschenden Erinnerung allein zurück.

Fabio Bacà
Nova
Kunstmann 2023

(aus dem Italienischen)

Eigentlich hatte er noch nie irgendwas genommen, doch vor einigen Monaten war er in eine peinliche Sache reingestolpert.
Am ersten Montag im Februar hatte Marco Callipo, ein wenig überraschend, auch ihn zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Am folgenden Samstag war Tommaso also, noch immer leicht ungläubig, bei den Callipos erschienen, er würde wohl eine dieser üblichen Jugendpartys über sich ergehen lassen müssen, war er überzeugt, von denen er mit gemischten Gefühlen gelesen, gehört und sich dank amerikanischer Filme ein Bild gemacht hatte: Kumpelhaftigkeit, Alkohol ohne Ende und unschuldiges Aufbegehren. Doch er landete recht erstaunt mit ungefähr vierzig anderen jun­gen Leuten – ein Drittel davon aus seiner Klasse –, bei einem friedfertigen Gastmahl, dessen verblüffendste Anomalie neben der ruhigen Soft-House-Musik unbekannter Herkunft die außergewöhnliche Qualität der Speisen war. Einen Gutteil des Essens plauderte Tommaso im Stehen mit Anna, dann studierte er mit geheuchelter Kennerschaft die Bilder an den Wänden und nahm schließlich mit dümmlicher Miene, zu unzähligen Selfies und Gruppenfotos genötigt, an den Riten, Anschneiden der Geburtstagstorte und Auswickeln der Geschenke, teil. Aus den Augenwinkeln betrachtete er ab und zu die strenge Schönheit einer Unbekannten: klösterliche Kleidung, zurückhaltende Gestik, wenige Worte, kaum ein Lächeln. Das sei, erklärte Anna ihm, Francesca, Marcos Zwillingsschwester, auch wenn sie ihm nicht besonders ähnle, und, wie Tommaso feststellte, nirgendwo erkennbar war, dass es heute zwei Geburtstagskinder gab. Francesca, vertraute Anna ihm an, sei nach der elterlichen Scheidung mit der Mutter nach Florenz gezogen, aber im Dezember habe diese einen so gewaltigen Nervenzusammenbruch erlitten, dass sich die Einweisung in eine Privatklinik empfahl. Doch er dürfe bloß nicht die Gerüchte glauben, mahnte sie, dass Francesca ebenfalls krank sei und ihr Vater, als er sie wieder bei sich aufnahm, einen Privatlehrer engagierte, der sie Zuhause unterrichtet.
Die Gäste verließen einer nach dem anderen die Feier, nicht ohne Marco noch einmal mit Küsschen oder High-Fives die Ehre zu erweisen. Schließlich waren sie nur noch zu sechst. Tommaso überlegte, ob er seinen Vater anrufen oder noch die endgültige Verabschiedung abwarten sollte, wobei er nicht wusste, wie diese genau aussah. Doch da legte der Gefeierte einem großen Blonden, den er unter den Übriggebliebenen als Einzigen nicht kannte, eine Hand auf die Schulter und stellte ihn als großzügigen Spender des allerbesten Geschenks vor. Daraufhin zog der Blonde etwas aus einer Gesäßtasche: ein durchsichtiges Tütchen, zur Hälfte gefüllt mit zumindest rudimentär gemahlenen, seltsamen Gewürzen.
Tommaso brauchte mindestens dreißig Sekunden, um zu begreifen, um was es sich handelte, und weitere dreißig, um die aufkommende Panik zu unterdrücken.
Da war es doch, das unschuldige Aufbegehren.
Dann überlegte er eine volle Minute. Er war nicht verpflichtet, das Gras (oder was immer in dem Tütchen war) zu rauchen, das Problem war allein, wie er sich dem mit Würde entziehen konnte.
Aber einen Augenblick später überkam ihn der bedrohliche Verdacht, dass Marco ihn eigentlich genau darum eingeladen hatte, damit er an dem teilnahm, was er und die anderen Eingeweihten auf den Holzstühlen, die im Halbkreis in dem kleinen Fumoir der Villa Callipo standen, gerade vorbereiteten, dass er also keineswegs zufällig, weil er beim allgemeinen Abschied zu lange gezögert hatte, zu den Verbliebenen gehörte. Dann hätte es komplexe soziale Folgen, wenn er sich dem mit Würde entzöge.
Mittlerweile hatte der Blonde, der Dmitrij hieß und eindeutig sowjetische Wurzeln hatte, mit fachkundigen Griffen einen Joint gerollt. Tommaso, dessen Reflexe durch das sorgfältige Abwägen zahlreicher, sich überlappender Alternativen verlangsamt waren, war von der allgemeinen Erregungswelle in den Raum getragen worden und entschied nun, dass es für ein höfliches Nein, den Anruf bei den Eltern oder einen Sprung aus dem Fenster nunmehr zu spät war.
Marco saß auf dem kleinen Sofa in der Mitte. Dmitrij zündete den Joint an und reichte ihn weiter. Marco, im Schneidersitz auf dem Samt, tat den ersten Zug.
»Sehr gut«, sagte er.
Jetzt war Dmitrij dran. Er atmete tief ein, behielt den Rauch einen Moment in der Lunge und atmete schweigend durch die Nase wieder aus.
Dann kamen Matteo und Giorgio an die Reihe. Beide zogen vorsichtig, man sah ihnen die Unerfahrenheit an.
Und ihm, fragte sich Tommaso. Was würde man ihm ansehen?
Ahnungslosigkeit. Angst. Scham.
Fast hätte er gar nicht gemerkt, dass ganz in seiner Nähe, auf dem Boden wie eine Squaw, Francesca Callipo saß.
Wo sollte sie sonst auch sein? Sie war ja die Tochter des Hausherrn.
Der Hausherr. Wo war der überhaupt?
Auf einmal hoffte Tommaso, dass er im Fumoir auftauchen und sie erwischen würde, wie sie auf der verdächtig riechenden, halbfesten Nimbuswolke dahintrieben, und dass der Abend für die Zwillinge mit Peitschenhieben aus teurem Krokodilleder enden würde, während sich die restlichen Ruchlosen rennend in jede vorhandene Ritze verzogen.
Francesca hatte nun am Joint gezogen und reichte ihn Tommaso, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Was sollte er tun?
Alle starrten ihn an, aber eigentlich, da war er sich sicher, beachtete ihn keiner.
Nie wurde er wirklich beachtet.
Wer war er schon?
Was war er?
Sicher war nur, dass ihm das, was er gerade zwischen den Fingern hielt, keine Antworten darauf liefern würde. Was würde jetzt passieren? Ehe er sich neuen Erfahrungen aussetzte, studierte er normalerweise die zu erwartenden statistischen Folgen, aber jetzt, dachte er, war es zu spät, um das Handy rauszuholen und bei Wikipedia Gesundheitliche Folgen von Cannabis einzugeben.
Wenn es überhaupt Cannabis war.
Jedenfalls durfte er nicht länger zögern.
Er setzte den Joint an die Lippen und zog.
Wie die anderen hielt er den Rauch einen Augenblick zurück, dann reichte er den Joint an Marco weiter, für die zweite Runde.
Langsam atmete er aus, versuchte, nicht zu husten.
Der Geschmack war unangenehm. Stechend bitter. Genuss sah anders aus.
Er schloss die Augen.
Öffnete sie wieder.
Hüstelte.
Zählte bis zehn. Er merkte nichts. Neben Erleichterung spürte er einen Anflug von Enttäuschung.
Der Joint war wieder bei Giorgio angekommen; die Augen in ekstatischer Begeisterung geschlossen, brummte er etwas vor sich hin, dann gab er ihn an Francesca weiter. Sie hob die Hand, als Zeichen, dass sie aussetzte.
Man konnte also ablehnen, sogar ohne eine Rechtfertigung zu stammeln.
Wieder war die Reihe an ihm.
Die Stühle, auf denen sie saßen, dachte er ein wenig zusammenhanglos, stammten aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts.
Giorgio streckte ihm den Arm hin.
Was sollte er tun? Ablehnen?
Er warf Marco Callipo, ein paar Meter weiter links, einen kurzen Blick zu.
Sein Gesichtsausdruck verriet ebenso Verärgerung wie Sanftmut. Tommaso stellte sich erneut vor, wie er einen atemlosen, keuchenden Jungen hetzte, um ihn den animalischen Instinkten seiner Klassenkameraden auszuliefern. Die weißliche Wolke über ihm schien, so eindrücklich wie eine düstere Allegorie, die Gewalt zu personifizieren, zu der er fähig war.
Vielleicht, sagte sich Tommaso, hing über jedem ein aus dem Wasserdampf weniger emblematischer Fakten kondensiertes Bild, durch den Meinungsstrom der anderen verdichtet: eine Wolke, die so hartnäckig, lästig und verlockend war wie der Geruch nach Desinfektionsmitteln an der Kleidung seines Vaters oder der nach Problemkindern, den seine Mutter mit nach Hause brachte.
Auf seinen Blick hin nickte ihm Marco knapp und aufmunternd zu.
Tommaso wollte ihn nicht enttäuschen.
Diesmal hielt er den Rauch etwas länger in der Lunge und stieß, den Blick auf das zuckende Glühwürmchen am Joint-Ende geheftet, den Atem durch die Nase aus.
Sein Blick wanderte zum Bild über dem Schreibtisch.
Eine Reproduktion des vierten und letzten Drucks aus William Hogarths Serie über die Grausamkeit: »Die Belohnung der Grausamkeit«, ungefähr 1751.
Während er den Joint an Marco weitergab, fragte er sich, woher zum Teufel er das wusste. Das Bild war ziemlich bekannt, aber er hatte keine Ahnung von Kunst. In den Bücherregalen seines Vaters fanden sich allerdings Kunstbände und die hatte er, wie er sich vage erinnerte, angeschaut, vielleicht hatte er auch als eine Nebenwirkung von Marihuana Zugang zu einem unabsichtlich abgespeicherten rätselhaften Gedächtnisarchiv mit Architektur- und Kunstströmungen.
Auf der Suche nach weiterer Bestätigung schaute er sich um und begegnete Francescas Blick.
Sie guckte seltsam.
Den Joint in der Hand, hielt sie die Luft an.
Er meinte, in ihren Zügen angemessene Traurigkeit zu entdecken.
Sie stieß den Rauch aus und reichte ihm den Joint.
Tommaso nahm ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger und blickte Francesca weiterhin in die Augen.
Er begriff, dass er nicht hätte sagen können, ob ihr Gesicht schön war oder nicht, in Wirklichkeit. Das richtige Adjektiv war vielleicht außerirdisch: sichtbar, aber so weit weg und unerreich­bar wie die Saturnringe oder die Monde des Pluto.
Das war leicht zu begreifen.
Plötzlich konnte er alles leicht begreifen oder erfassen.
Er nahm noch einen Zug und reichte den Joint weiter an Marco, der selig lächelte.
Alles wirkte seltsam.
Als würde die Realität den Raum zwischen den Ganglien im Gehirn langsam ausfüllen, als verringere sich der Abstand zwischen wahrgenommenen und realen Objekten auf bedrohliche Weise, als drücke etwas gegen die Grenzen seines Gehirns und suche mit Gewalt Anschluss an ein großes, quasi grenzenloses Territorium.
Er versuchte, sich zu entspannen, dachte an das Buch, das er vor wenigen Stunden beendet hatte (eine umfangreiche Abhand­lung über die Expansion des nationalsozialistischen Deutschlands vor dem Krieg), aber die kleine Welt um ihn herum schien klar. Zu klar.
Zu real.
Hyperreal.
Ja.
Hyperreal war wohl das richtige Wort.
Also letzten Endes irreal.
»Jesus Christus«, entfuhr es ihm.
»Christos«, echote Dmitrij, mit geschlossenen Augen.
Tommaso erhob sich.
Er war erledigt.
Die Realität hatte sich seiner bemächtigt.
Der Anschluss war vollzogen.
Er ging ein paar Schritte, stolperte über das Tischchen, stürzte der Länge nach auf Marco. Giorgio und Matteo blickten sich mit großen Augen an, beugten sich vor und lachten hemmungslos. Tommaso rappelte sich wieder auf, versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Schwankend ging er in Richtung Tür.
Das war keine Übelkeit. Er musste sich nur vor der Realität schützen. Über ihnen hing, wie die Funken eines Feuerwerks kurz vor Ende der Trägheitskurve, das zersplitterte, kalte und drei ­dimensionale Licht des Kristallleuchters.
Hinter ihm sagte jemand etwas. Tommaso kniete nieder, fiel zu Boden.
»Hilfe«, murmelte er.
Er schloss die Augen, spürte, wie das kalte Parkett an seinen Handflächen kitzelte. Etwas berührte ihn am Rücken.
Stöhnend wandte er den Kopf.
Links neben ihm hockte Dmitrij.
Mit entspanntem, aber glänzendem Blick.
Daneben Francesca, die Augen so weit aufgerissen, dass man die obere Sichel der Sklera sah, vor Staunen milchig.
»Alles ist gut«, sagte der Junge beinah flüsternd. Wenn er leise sprach, hatte er fast keinen Akzent.
Doch Tommaso schnappte nur nach Luft. Dmitrij half ihm beim Umdrehen. Äußerst forschend blickte er ihm ins Gesicht.
Er sagte etwas in seiner Sprache, stand auf, ging zum Fenster, öffnete es, genoss einen Moment die eisige Luft. Dann verließ er den Raum.
Tommaso kroch langsam zur Wand.
Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen, versuchte, an dem brüchigen Damm aus Gewissheiten, die unter seinen Beinen ins Rutschen gerieten, das Gleichgewicht zu halten. Er betrachtete die Anwesenden, einen nach dem anderen. Gemäß der gerade demaskierten Übereinstimmung von Hyperrealität und Realität hatten sie sich in schneebedecktes Ektoplasma verwandelt. Tommaso erinnerte sich an ihre Vornamen, Nachnamen, Charaktereigenschaften, aber ihre Materialität wurde von der Konkretheit, die sein verändertes Gehirn den anderen physischen Objekten verlieh, gewaltsam vernichtet. Anders gesagt, er entdeckte gerade, dass die Realitätsebene von Menschen keinesfalls mit der von Dingen vergleichbar war. Francesca, die nun praktisch neben ihm kniete, war ein Gespenst, doch ihre Kleidung so überdeutlich, dass ihm fast die Augen schmerzten.
Dann passierte es.
Das Mädchen, ob real oder Gespenst, umfasste mit beiden Händen seinen Kopf, legte ihre Stirn an seine und wiederholte mit besorgniserregender Besessenheit, er brauche keine Angst zu haben. Ihre Lippen waren so nah an seinen, als wolle sie ihm Trost einhauchen. Er atmete den ebenso süßen wie sauren Geruch ihres Mundes ein, wobei es ihm nicht unlogisch schien, dass der lauwarme Odem eines irrealen Wesens das Gegengift zu einer Überdosis Realität war. Allerdings fühlte er sich weder besser noch schlechter. Das Mädchen hockte nun auf seinen Beinen, die Mund­schleimhaut so nah an seiner, dass Tommaso es für den intimsten Körperkontakt, seit seine Mutter ihn abgestillt hatte, hielt. Da bemerkte er plötzlich dort, wo die Schambeine aufeinanderlagen, eine seltsam ausstrahlende Wärme, der ein unpassendes erektiles Beben vorausgegangen war. Die Zeit lief auf einmal Zentimeter für Zentimeter langsamer, er fühlte sich nicht weniger unglücklich oder verwirrt, aber von irgendwo nahm er die knisterte Flam­me der Erleichterung wahr. Er legte die Arme um Francescas Rücken, um ihre Bewegungen zu unterstützen, sie nahm sein Gesicht noch fester zwischen ihre rauchigen Hände, so fest, dass es fast schmerzte. Ihre Gesichter waren so nah, dass sich ihre Augenbrau­en beinah berührten. Doch dann kam Dmitrij mit einem Glas in der einen, einem Blister in der anderen Hand und bat Francesca ohne viel Aufhebens, Platz zu machen. Er kniete sich neben ihn, schob ihm zwei Tabletten zwischen die Zähne und flößte ihm, da­mit er besser schlucken konnte, etwas ein, das tatsächlich Wasser zu sein schien.
Nach zwanzig endlosen Minuten kam Tommaso zu dem Schluss, dass Dmitrijs Therapie die Remission seiner psychotischen Krise nicht um ein Jota gefördert hatte.
Die anderen starrten ihn stumm an, in chemischer Benommenheit versunken. Durch die bekannte temporäre THC-bedingte Erweiterung der Blutgefäße verging die nächste halbe Stunde so langsam wie eine Woche Regen, ein furchtbares Gefühl, aber nach dem, was dann kam, wünschte Tommaso es sich fast zurück.
Kurz nach eins bemerkte er nämlich, dass die Wärme, die er gespürt hatte, als Francesca rittlings auf ihm saß, nicht in engerem Sinne sexueller Natur war. Vielmehr hatte er sich sehr prosaisch vollgepinkelt. Und der zweite wirklich harte Moment kam, als er aufstand, während die anderen auf ihren Stühlen saßen, die Wirkung des Joints längst verdaut hatten und ihn verblüfft anschauten (außer Francesca, die während seines gesamten irrealen Schwalls den Kopf zwischen den Händen hielt, und als sie aufstand, rote Augen hatte), und er sie nötigte, sich an den Händen zu halten und gemeinsam zu schwören, sollte seine Krise nicht vergehen, sollte er aufgrund des Marihuanas endgültig nicht mehr zur illusorischen, aber beruhigenden Wahrnehmung der Realität zurückkehren und seine Eltern ihn in der vergeblichen Absicht, ihn zur Räson zu rufen, in die Klinik stecken, dann würden sie ihn entführen und in die Schweiz begleiten, damit er sich dort einer kathartischen, barmherzigen Behandlung zur finis vitae unterziehen konnte. Allerdings bekam Marco Callipo, der die ganze Zeit voll Mitgefühl seine Hand hielt und beifällig nickte, in diesem Moment einen derartigen Lachanfall, dass das gemeinschaftliche Versprechen einer Eutanasiemission auf Schweizer Boden bei Weitem nicht so feierlich ausfiel wie gewünscht. Der dritte wirklich schwie­rige Moment kam dann, als seine Eltern um halb zwei an der Villa der Callipos eintrafen. Keiner seiner Komplizen war nüchtern ge­nug für einen Ad-hoc-Plan zur Elternabwehr. Tommaso musste mit ansehen, wie die stürmischen Schreie der klassischen mütter­lichen Besorgnis blitzschnell einer ihm bislang unbekannten Verstörung wichen (die allerdings eher bescheiden ausfiel, vor allem, als Dimitrij seinem Vater mehrmals versicherte, das genommene Marihuana sei vollkommen rein), und während die anderen von den Eheleuten Ricci beeindruckt waren, weil diese weder gängelnde Gräuel verkündeten noch mit strafrechtlichen Konsequenzen drohten, wurde Tommaso (der langsam wieder einen gewissen Zugang zur angenommenen Realität oder zur trügerischen Realität oder zur trügerischen, aber zumindest erträglichen Realität fand) angesichts der Katastrophe, mit der das große Finale von Marco Callipos Geburtstagsfeier aufgrund der geringen Widerstandsfähigkeit seiner chemischen Rezeptoren kläglich endete, von tiefen Schuldgefühlen übermannt. Als die anderen ihn zum Abschied noch einmal gemeinsam umarmten, konnte er nicht viel mehr tun, als sie beinah unter Tränen um Verzeihung zu bitten.
Im Auto setzte sich seine Mutter neben ihn auf den Rücksitz und flüsterte ihm aufmunternde Worte zu, die sein barmherziges Gehirn eiligst in Echtzeit ignorierte. Sein Vater, der nachts mit würdeloser Vorsicht fuhr, was die kurze Fahrt noch peinlicher machte, schaltete sich nur einmal beruhigend ein: die abnormalen paranoiden Reaktionen auf Delta-9-Tetraidrocannabinolo seien im Grunde völlig harmlos. Als Tommaso das hörte, hatte er das Gefühl, als sinke der zwischen Hals und Herz klemmende emotionale Kloß langsam in Richtung Magen (obwohl er sich ehrlich gesagt keineswegs sicher war, dass es sich um einen rein emotionalen Kloß handelte, und ihn das Gefühl eher an die Vorboten der katastrophalen gastrischen Folgen des einzigen Hochzeitsmahls erinnerte, an dem er vor Jahren teilgenommen hatte), und er beschwor seinen Vater, auf der Stelle rechts ranzufahren. Das war das Erste, was er auf der Autofahrt sagte. Der vage väterliche Protest (»Wir sind praktisch zu Hause«) wurde nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel umgehend zurückgenommen: Tommasos Augen waren weit geöffnet, seine Wangen kreidebleich. Davide hielt gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Sohn die Rücktür aufriss und, die Füße am Boden, in einem langen Schwall exzellente Speisen ausspie, gefolgt von einem dreifachen röchelnden Würgen, das der Junge mit quälendem Stoizismus ertrug, während seine Mutter seine Arme hielt, damit er nicht vom Sitz rutschte.
Als Tommaso am nächsten Morgen um elf Uhr aufwachte, von Trauma und Marihuana-Stoffwechselprodukten noch halb benebelt, stellte er sehr erleichtert fest, dass die angebliche Realität an ihren Platz zurückgekehrt war.
Seine Kleidung lag ordentlich gefaltet auf dem Stuhl, die Kleiderschranktüren waren fest verschlossen, das Bücherregal ähnel­te wie sonst einem polychromen Barcode, und die Poster von Edwin Hubble und Travis Scott, ein seltsames pubertäres Helden-Hendiadyoin, blickten sich von den gegenüberliegenden Wänden an.
Cochise hockte reglos wie die Statuette eines Tierkults auf dem Schreibtisch. Vielleicht fragte er sich, was sein Herrchen zu der Zeit noch im Bett machte, oder er lobte ihn, weil er sich nach fast sechszehnjährigen Bekehrungsversuchen endlich der Faulheit hingab.
Das Teleskop stand am Fenster, auf die beiden Persei-Sternhaufen gerichtet. Realität und trügerische Realität stimmten wieder überein. Kein Zweifel.
Es sei denn, dachte Tommaso, als er sich im Bett aufrichtete, die neuerliche Übereinstimmung hatte als unerwartete Nebenwirkung eine winzige neue Realität erzeugt, die aus den Zwillingsgliedern geglitten war wie die Frucht einer komplizierten Jungfernzeugung.
Sie war da.
Für ihn auf die Welt gekommen.
Eine neue Realität, zitternd und feucht wie ein eben herausgepresstes Kind. Warm, quengelnd und bedürftig.
Er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte, er traute sich kaum, hinzusehen.
Nein, dachte er und schlug seufzend die Hände vors Gesicht, er hatte nicht die geringste Ahnung, was er der neuen, erschreckenden, objektiven Tatsache entgegensetzen sollte, dass das Schlimmste des vorigen Abends nicht sein donnernder Absturz auf dem holprigen Abhang einer THC-Intoleranz war, sondern die wahnwitzige Gewissheit, dass er die Schwelle zu einer n-ten grauenhaften Realität übertreten hatte, in der er sozial geächtet, von seinen Eltern bedauert und vor allem hoffnungslos in Francesca Callipo verliebt war.

Christine Avel
Nur hier sind wir einzigartig
mare 2022

(aus dem Französischen)

DAS GELÄNDE
Die Welt beginnt und endet hier. Mit festen, unveränderlichen Grenzen, vom dritten Johannisbrotbaum an der Hauptstraße bis zum letzten Fels der kleinen Bucht, wenige Kilometer weiter.
Das hat Niso so entschieden, aufrecht über dem hellen Becken der großen Entscheidungen, genau dort, wo wir jeden Sommer unter wildem Geschrei die winzigen Schlangen abschlachten. Die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn wie sein Vater nach oben gereckt, verkündet er an jenem feierlichen Tag: »Genau hier beginnt die Welt«, und wir klatschen begeistert Beifall.
Die Welt beginnt dort, am Dorfausgang. Die einzige geteerte Straße führt geradewegs ins Inselstädtchen und macht dann einen plötzlichen Knick in Richtung Meer. Unser Gelände umfasst drei Olivenhaine, die Sträucher und die dornige Macchia, den von Tamarisken gesäumten Garten, das Grabungshaus, den Palast und das Grabungsfeld, ist also in mehrere Orte aufgesplittert, die bis zum felsigen Meeresufer abfallen.
Unser Leben beginnt und endet hier. Hier verbringen wir zwei oder drei Monate im Jahr; das restliche Jahr existiert kaum. Es dehnt sich aus, in einem dichten, gleichförmigen Nebel, eine gut einstudierte, hastig aufgesagte Darbietung ohne jeden Sinn, die wir auf der Insel sofort vergessen und über die wir untereinander nie reden.
Die restliche Welt ist ein armseliges, fades und kaltes Etwas, eine kümmerliche Einlage in der Abendsuppe. Sogar unser Sommerhimmel ist hier anders: von einem intensiven Blau und einer Wärme, die sich abends in einer unvergleichlichen Farbenflut entfaltet. Das Milchige des flämischen Horizonts und die lang gezogenen norditalienischen Wolken fehlen.
Unsere Welt beschränkt sich auf ein paar Hundert Quadratmeter tiefes Wasser und blutrote Erde, eingerahmt von zwei Wegen und dem felsigen Meeresufer, das sich in die halbrunde Bucht frisst. Das genügt uns.
Am Abend vor der Rückreise stehen wir oben auf dem Fels und betrachten voller Stolz unsere Welt; wir fahren mit der Zunge über die vom Salz aufgesprungenen Lippen, treten von einem Bein aufs andere, bis der Himmel noch schwärzer ist als das Meer. Unsere kleine Bucht vor Augen, schwören wir, uns im nächsten Sommer wieder in die Wellen zu stürzen, so wie im übernächsten und in allen anderen auch.
Die Welt ist hier und nur hier, bebt lebendig und warm unter unseren Händen, unseren Füßen. Wir werden sie niemals verlassen.

(…)

GRABUNGSFELDER

(…)

Manche kommen völlig überraschend nicht mehr. Es ist, als wären sie nie da gewesen, als hätte die Vergangenheit sie verschluckt. Oder glauben wir das nur, weil wir als Kinder ausschließlich in der Gegenwart leben?
Etwa die Sarestis, ein älteres Ehepaar, das mit seiner brennenden Leidenschaft für den Volkstanz einen Sommer lang die ganze Gruppe ansteckte. Sogar Forestier, der seine ganz eigene Sirtaki-Version entwickelte und in puncto richtiger Schrittfolge oder Haltung der rechten Hand keinen Widerspruch duldete.
Oder die wohlgeformte Isabella, die sich barbusig in die Sonne legte; an ihrer bronzefarbenen Haut und ihren großen braunen Brustwarzen konnten wir uns nicht sattsehen.
Oder Ferrand, der vier Sommer hintereinander da war und uns furchtbar alt vorkam, mit schütterem Haar und mageren, schlaffen Oberschenkeln, die wie schlecht zerlegte Hühnerbeine aus seinen Shorts ragten. Doch er hatte jedes Mal eine sehr junge und andere Studentin dabei, »Meine momentane Freundin«, wie er sie uns unbekümmert vorstellte. Und auch Nisos und Evis Mutter fehlt eines Tages. Niemand kommentiert ihre Abwesenheit oder traut sich nachzufragen, nicht mehr jedenfalls als bei anderen spurlos Verschwundenen. Warum auch? Eine Antwort würde man ja sowieso nicht bekommen.
Zac verschlingt zu der Zeit Science-Fiction-Romane (durch den neuen Ausgrabungsfotografen ist im Arbeitszimmer Philip K. Dick aufgetaucht); als Experte für Raum-Zeit- Spalten liefert er uns die passende Erklärung.
Eine Spalte. Kann man dort hineinsehen? Auf jeden Fall. Die Spalte an der Küste hat uns ausreichend beeindruckt, auch wenn wir neuerdings wissen, dass sie anders als lange geglaubt nicht bis ins Erdinnere reicht, sondern höchstens zwei Meter tief ist.
Kurz gesagt, die Raum-Zeit-Spalte ist eine Art Trichter (»Verstehst du, wie der Trichter, durch den man die Säure auf die Scherben gießt«), durch den unvorsichtige Astronauten eingesogen und irgendwo anders, im Zeitalter von T. rex oder in einer fernen Zukunft, auf der Venus oder in einem Marssumpf, wieder ausgespuckt werden; so wie es der Zufall will, das kann man nicht bestimmen.
Zacs Ton verheißt Unheil. Seine Science-Fiction-Geschichten enden mit grausamem Leid, und genau das bereitet ihm Vergnügen.
»Und dann? Du flunkerst, oder?«
»Und dann kann man sicher sein, dass man sie nie wieder trifft.«
Danach stellen wir uns einige Zeit lang den riesigen intergalaktischen Trichter vor: mit den Sarestis, die bis in alle Ewigkeit fröhlich tanzen und schweben, mit Nisos und Evis Mutter, die uns immer so zärtlich und traurig schien, mit den dänischen Zwillings-Heulsusen, die wir zwei Sommer hintereinander gequält haben, mit dem erotischen Regisseur und seiner grünäugigen Schönheit, mit Jérôme (der stumme Junge aß mit Hingabe seine Popel) und ganz unten vielleicht dem süßen Fellknäuel namens 42.
Die einen gehen, die meisten bleiben, aber im Grunde ändert sich nichts. Die Wege, die Freuden, die plötzliche Erschöpfung sind Jahr für Jahr dieselben. Ein Sommer gleicht dem nächsten wie eine Scherbe der anderen, wenn sie noch erdverkrustet aus dem Boden kommen. Genau das gefällt uns, dass hier nichts passiert: die immer gleichen Spiele, gemütlichen Abende, tiefen Nächte, ein Sommer, der unmerklich mit einem Schluck zur Neige geht.
Hier gibt es keine extremen Freuden oder Leiden, nur eine wattige Ruhe, ein diffuses Wohlbehagen und Vergessen. Die Prüfungen sind weit weg, die Großeltern sterben nicht, Säufer überleben wundersamerweise die Felsschlucht. Nie passiert auch nur irgendetwas.
Hier können wir leben, hüpfen, woanders schlafen und nach Hause kommen, wie wir wollen: voller Schrammen, Insektenstiche, Kratzer oder Bisse, die Haut vom Salz zerfressen, an den Schultern in Fetzen. Hier können wir halb nackt herumlaufen, mit schwieligen erdroten Füßen, die Shorts voller Flecken, die nie wieder rausgehen.
Hier können wir in der allgemeinen, allseits willkommenen, heiß ersehnten Achtlosigkeit draufgehen.