Leseproben

Hier können Sie in dem schnuppern, was ich so übersetze. Viel Spaß!

David G. Haskell

Das verborgene Leben des Waldes

Kunstmann 2015

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis

Für einen Moment nur erstrahlt der Himmel in Rosarot, dann flutet von Osten Gelb herein und lässt das Mandala erglühen. Als sich die Färbung Richtung Horizont zurückzieht, hinterlässt sie am übrigen Himmel ein milchiges Licht. Ein Rotaugenvireo begrüßt den Morgen mit exakt getakteten Pfiffsalven. Manchmal steigt sein Ton am Ende an: „Wo bin ich?“, dann wieder ab: „Da bist du …“. Der Vireo befragt den Wald, antwortet unermüdlich und setzt seinen Lehrvortrag noch in der Mittagswärme fort, wenn die anderen Vögel das Rednerpult längst verlassen haben. Und wie es sich für den Berufsstand ziemt, steigt er selten von den Höhen des Blätterdachs herab: Meistens kann man ihn nur anhand seiner hellen, wiederholten Rufe ausmachen. Zum Vireo gesellt sich ein Braunköpfiger Kuhstärling. Kuhstärlinge sind Nestschmarotzer, die ihre Eier in die Nester anderer Vögel legen. Von sämtlichen Elternpflichten befreit, können sie sich vollkommen dem Liebeswerben widmen. Das Männchen beschäftigt sich zwei bis drei Jahre damit, seinen Gesang zu perfektionieren: Sein Lied tönt wie flüssiges Gold, das hinabfließt, dann erstarrt und so schrill klingt, als stoße es an Stein – das wallende Fluten einer kostbaren Flüssigkeit, gepaart mit dem Klingeln von Metall.

Der Himmel leuchtet nun blau, und das Farbenspiel des Sonnenaufgangs ist im Osten zum pastellfarbenen Wolkenband verblasst. Unterhalb des Mandalas raspelt laut ein Roter Kardinal, jeder Ton das Wetzen eines Feuersteins. Die spröden Rufe kontrapunktieren das Kollern eines Truthahns unten im Tal. Der Wald hat das ferne Kollern verwandelt: Es klingt, wie Henry Thoreau sagt, „wie von einer Waldnymphe gesungen“. Die Vegetation wirft den Ton zurück und verdichtet ihn. Doch es ist die Zeit der Truthahnjagd, das Kollern könnte auch von menschlichen Nachahmern stammen, die auf der Suche nach Kulinarischem sind, und nicht von einem wahren Truthahn auf der Suche nach Liebe.

Die verblassenden Farben der Morgendämmerung gewinnen noch einmal an Kraft. Der Himmel glüht in Flieder und Narzissengelb: Die Wolken sind farbig geschichtet, wie bunte aufgetürmte Decken auf einem Bett. Weitere Vögel begrüßen den jungen Morgen. Das nasale onk der Spechtmeise trifft auf krächzende Krähen, ein Grüner Waldsänger murmelt in den Ästen über dem Mandala. Als die Farben unter dem glühenden Blick ihrer Mutter, der Sonne, dann vollständig verblichen sind, singt eine Walddrossel ihr Lied: der krönende Abschluss des Morgenkonzerts. Ihr Singen scheint aus einer anderen Welt herüberzuwehen, so ruhig und rein, dass ich mich durch seine Anmut geläutert fühle. Dann ist ihr Lied vorbei, der Vorhang fällt, und ich bleibe mit meiner verlöschenden Erinnerung allein zurück.

Wie viel kostet eine Träne?

von Paolo Di Paolo

in: Glückliche Wirkungen, Hrsg. Alida Bremer und Michael Krüger, Propyläen 2017

Wie viel hat eine Träne gekostet? Oder ein Regentropfen?

Was fragst du denn. Nichts.

Der Großvater wird ungehalten, aber der Enkel fragt weiter: Er will das verstehen. Manchmal schaut der Großvater aus dem Fenster, steht drei Minuten so da, vielleicht auch weniger. Dann gibt er dem Enkel oft eine alte CD: Leg die doch mal ein. Altes Zeug. Vorsintflutlich. Plötzlich beginnt ein Lied, und dem Großvater stehen Tränen in den Augen. Der Enkel fragt: Warum bist du manchmal so traurig? Warum war die Welt, als du jung warst, so anders?

Der Enkel kann kaum glauben, was der Großvater erzählt. Der erzählt Geschichten, denkt er. Der Großvater erträgt es kaum, wenn der Enkel wissen will, was die Dinge damals kosteten. Was fragst du denn, sagt er und: In was für einer Welt bist du groß geworden.

Wieso, sagt der Enkel, was habe ich denn Schlimmes gesagt?

Was fragst du denn, sagt der Großvater. Ihr denkt wohl, dass man für Geld alles kaufen kann. Aber das war nicht immer so. Wir wollten uns damals nicht damit abfinden, dass alles verkauft wurde. Die Welt war langweilig, stimmt, wir waren gereizt, bedrückt. Wir fühlten uns unbehaglich. Aber wir wussten noch, wie man sich empört.

Was bedeutet „empört“?

Sich aufregen –  über Dinge, die man für falsch hält. Manchmal schrie man sogar. Wenn der Gerechtigkeitssinn verletzt wurde. Dann, keine Ahnung, irgendwie müssen wir wohl abgelenkt gewesen sein. Wir alle, meine ich. Es hat uns irgendwann nicht mehr gestört, wenn Dinge verkauft wurden, von denen wir eigentlich dachten, dass sie uns gehörten. Eins nach dem anderen. Verstehst du, was ich meine?

Ja klar. So ungefähr.

Stell es dir einfach als eine riesige Versteigerung vor. Also, jemand hält etwas hoch und sagt: Wer will das? Wer bietet mehr?

Zum Beispiel?

Alles. Zum Beispiel den Staat. Wer will den Staat? Er ist noch ein bisschen teuer, hat dann jemand gesagt, aber wenn ihr mit dem Preis runtergeht, könnten wir darüber nachdenken. Alles eben. Öffentliche Plätze und Kulturdenkmäler. Auch Berufe. Jemand will Politiker, Sänger oder Tänzerin werden? Alles kostete nun etwas. Es war wie eine Seuche. Kaufen und verkaufen. Dann haben sie auch das Meer verkauft.

Aber was ist daran seltsam, fragt der Enkel. War das nicht schon immer so?

Nein, früher hat man sich manche Dinge angeschaut und gesagt: Das gehört keinem, also eigentlich allen, und das gab einem ein wunderbares Gefühl von Leben und Freiheit. Damals sind dein Urgroßvater, mein Vater, und ich im Sommer manchmal morgens mit dem Fahrrad zu den Wasserfällen gefahren. Wir standen da und staunten, wie unglaublich weiß sie waren – wie machtvoll und eisig. Helle, süße und frische Wasser.

Was?

Ach nichts. Eine Gedichtzeile, an die ich grad denken musste. Damals dachten alle noch, so etwas würde keinem gehören, also allen und es würde nichts kosten.

Und wie viel hat das Leitungswasser gekostet, als du jung warst?

Hm, viel weniger als heute jedenfalls.

Und hat man damals auch schon Tränen oder Regentropfen verkauft?

Nein, das noch nicht.

Musste man denn schon für seinen „Luftraum“ bezahlen?

Nein, auch nicht.

Und für den Horizont? Den bezahlt man doch heute nach Metern. Wie viel Horizont siehst du, wenn du zu Hause aus dem Fenster guckst? Und wer kein Zuhause hat, der zahlt eine Pauschale.

Als die ersten Klänge der alten CD ertönen, schaut der Großvater gedankenverloren in die Ferne. Wir haben nicht genug getan, denkt er. Als es noch Zeit war. Es ist unsere Schuld. Wir hätten deutlicher werden müssen. Wir hätten sagen können: Wir Menschen bestehen doch aus Wasser. Wenn Quellen, Wasserfälle, Flüsse und Regentropfen etwas kosten, dann wird bald auch der Mensch was kosten. Ein Neugeborenes enthält mehr Wasser als ein alter Mensch? Ja, genau und darum muss es auch mehr kosten.

Dann öffnet der Großvater das Fenster und atmet die Luft ein, die ihm zusteht.

Die Abrechnung liegt dort drüben auf dem Tisch.

Boris Cyrulnik
Glauben, Psychologie und Hirnforschung entschlüsseln, wie Spiritualität uns stärkt
Beltz 2018

Aus dem Französischen

Im Zusammenhang mit der Erhebung zu Gott stößt man auch auf die Autoskopie, bei der sich der Mensch von oben sieht. Durch das hochemotionale Erleben verlässt der Geist, ähnlich wie bei der Nahtoderfahrung, den Körper und steigt zum Himmel auf.

Weil man aus Angst, für verrückt gehalten zu werden, früher nicht über solche Dinge sprach, waren Zeugnisse darüber selten. Doch die Fortschritte der Anästhesie ermöglichen heute, Patienten in ein Koma zu versetzen, das nur um Haaresbreite vom Tod entfernt ist. Die Vorstellung der Trennung von Körper und Seele wird dabei von den Erfahrungsberichten der Überlebenden bestätigt.[1]

Dank der Zusammenarbeit von Neurologie und Psychoanalyse ist das Phänomen der fehlenden Körperwahrnehmung bei der Anästhesie oder einem starken psychischen Trauma mittlerweile besser erforscht. Wenn der Ichvorstellung die sensorische Wahrnehmung fehlt, steigt ein Bild – nach Empfinden der Kranken – an die Decke beziehungsweise – nach Empfinden der Gläubigen – gen Himmel. So erzählen misshandelte Kinder, vergewaltigte Frauen, ehemalige Deportierte der Konzentrationslager oder Gewaltopfer, dass sie sich von ihrem Körper lösten und mit erstaunlicher Gleichgültigkeit von oben betrachteten. Er sei seinem Leichnam gefolgt, so Viktor Frankl, ein Auschwitz-Überlebender[2], der diesen Mechanismus Überlebens-Spaltung oder Überlebensarbeit nennt.[3] Diese psychische Anpassungsleistung angesichts des bevorstehenden Todes gibt dem traumatisierten Subjekt die Gewissheit, dass sein Geist nach der Vernichtung des Körpers weiterleben wird.

Diese Gewissheit ist jedoch keine Wahnvorstellung, sondern im Gegenteil in einer Extremerfahrung verwurzelt, die den Sterbenden die Seele als ewig erleben lässt. Wovon die Überlebenden berichten, ist eine zwar erstaunliche, aber keine krankhafte Vorstellung.

Die Ekstase (ex-stase) ist eine intensive körperliche Empfindung, bei der man den Eindruck hat, »außer sich« oder vollkommen von etwas überwältigt zu sein. Es ist darum nur logisch, dass man den Orgasmus in Frankreich als petite mort (kleinen Tod) bezeichnet. In der Ekstase überwindet der entfesselte Geist, genauso wie bei der stürmischen Leidenschaft, die körperlichen Grenzen. Die Verzückungen der Liebe muss man darum wohl als die schönsten pathologischen Momente im Leben eines gesunden Menschen bezeichnen: »Ich habe durch ihn/sie völlig den Verstand verloren.«

In solchen Wendungen der Alltagssprache findet eine extreme Liebes- und Ekstase-Erfahrung Ausdruck, wie sie auch im Angesicht des Todes erlebt wird. Weil die Gefühle zu stark sind, verlässt der Geist den Leib, um die Welt von oben zu betrachten, und sieht, wie sich der Körper von der Seele trennt. Bei einem Schockerlebnis, ob aus Liebe oder Angst, steigt der Geist in den Himmel auf und lässt die sterbliche Hülle am Boden zurück. Für dieses biologische Phänomen haben alle Religionen Worte gefunden: Man erhebt sich zu Gott, Allah oder dem großen Manitu. Jesus und Mohammed steigen in den Himmel auf, ebenso wie die Seelen all jener, die nach dem Tod im Jenseits weiterleben. In Übereinstimmung mit diesem körperlichen Gefühl gibt es eine entfleischlichte, metaphysische Seele.

 

Bei den Beschreibungen solcher Extremerfahrungen fällt zudem auf, dass die Worte der Liebe mit denen des Todes verknüpft sind.

Nach der unsagbaren Deportationserfahrung im Dritten Reich war bei einigen der taumelnden lebenden Toten die Vorstellung von Gott erschüttert. Um die Hölle ertragen zu können, suchten die meisten zwar weiterhin Hilfe bei ihrem Gott und empfanden ein übergroßes Bedürfnis nach ihm (70 Prozent).[4] Andere fanden aber angesichts von Leichenbergen, die auf ihre Verbrennung warteten, eine Erklärung für das Undenkbare: Gott war in Auschwitz gestorben. Denn würde es ihn geben, hätte er solche Gräuel nie zugelassen: »Was für ein Gott konnte das geschehen lassen?« (16 Prozent).[5] Und eine Minderheit der lebenden Skelette, die sich vor ihrer Deportation nicht um Gott gekümmert hatte, entdeckte auf einmal Gott: »Plötzlich wusste ich, dass Gott existiert« (13 Prozent).[6]

Unter extremen Bedingungen gerät der Glauben in Bewegung. Dabei wird sowohl die Entdeckung als auch der Verlust von Gott als Gewissheit erlebt. Warum soll man beweisen, dass man atmet, lebt oder an Gott glaubt? Ich weiß, dass ich glaube, weil mein Gefühl es mir sagt. Punkt.

Auch neue Glaubensüberzeugungen sind authentisch, klar und unumstößlich. Der fromme Großvater des Juden Joseph lag mit seinem Sohn im Streit, weil er als Kommunist gegen die Nationalsozialisten kämpfte. Als sich beide in Auschwitz begegneten, war das Band zwischen beiden zerrissen. Der Sohn sah, wie sein Vater, vollkommen nackt, in die Gaskammer ging, und als der Vater seinen Sohn entdeckte, schrie er: »Kehre um, kehre zu Gott zurück …« und betrat die Kammer. Der verblüffte Sohn spürte, wie sich sein Körper erhob und der Glaube an Gott in ihn zurückkehrte.[7]

Die extremen Emotionen im Angesicht des Todes haben vermutlich dieselbe Wirkung wie extreme Emotionen der Leidenschaft. Mystiker berichten, dass sie bei der Begegnung mit Gott keusche, aber gleichwohl sexuelle Freuden erleben. Teresa von Ávila schreibt: »Oh welch zärtliche Gefühle! Welch stürmische Liebe! […] Freuden ohne Enden. Bräutigam und Braut […] vereinen sich in der wahren Freude, nebeneinanderzuliegen […] Ströme der Wollust […] reine Liebe.«[8]

Bei der religiösen Erfahrung lässt sich beobachten, dass der Trost mit Bewunderung und Bindungsaktivierung im Zusammenhang steht. Im Alltag kann Sex nicht selten über Kummer hinwegtrösten. Ein betrübter Mann kann die zärtlichen Gefühle einer Frau wecken. Eine bekümmerte Frau flüchtet sich gern in die Arme eines Mannes oder Gottes: »Ich fühlte mich umfangen, berauscht, verloren in einem Abgrund unsagbarer Tröstungen durch die schönste, göttlichste aller Visionen […]: unser Herr umgeben von Licht.«[9]

Das Gefühl der Ekstase, ob durch Substanzen wie den Peyotl-Kaktus und Kokain oder die Vorstellung höherer Mächte hervorgerufen, ist so stark, dass es sich im Gehirn niederschlägt: Wenn man nur darüber spricht, wird ein Neuronennetz im linken Schläfenlappen aktiviert. Beim Betrachten eines entsprechendes Bildes wird im für die visuelle Verarbeitung zuständigen Hinterhauptlappen Energie verbraucht und bei einem ausreichend starken Gefühl der limbische Schaltkreis aktiviert. Doch anders als bei Drogen, die unmittelbar wirken, weil das Gefühl ohne Sinneswahrnehmung auskommt, sind die durch Vorstellungen hervorgerufenen Gefühle von dauerhafterer Natur.

 

 

William E. Glassley, Eine wildere Zeit, Aufzeichnungen eines Geologen vom Rand des Grönlandeises, Kunstmann 2018

 

Dann schaute ich mich um und sah, dass der Felsrücken, den ich von unserem Camp aus gesehen und für den Bergkamm gehalten hatte, nur einer von mehreren Felsschultern war und sich der tatsächliche Bergkamm erst hundert Meter weiter über mir erhob. Was eigentlich als kurzer Spaziergang gedacht war, wurde plötzlich zu einer ausgedehnten Wanderung. Ich atmete tief durch, nahm den Rucksack wieder auf und lief weiter. 

Ich kam an glitzernden, von Gerbstoffen tiefbraun gefärbten Tümpeln vorbei, die langsam versickerten. Manche waren in tiefgrüne Mooskissen gebettet, schläfrige Gewässer, die sich höchstens dort leicht kräuselten, wo die Wasserrinnsale hinein- und hinauströpfelten. Andere waren eigentlich nur flache Kuhlen im durchnässten, pflanzenbewachsenen Boden. Ich konnte mich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, unerlaubt in Gärten einzudringen, die von unsichtbaren Wesen zur stillen Meditation angelegt worden waren.

Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts Falter, Spinnen und riesige Hummeln auf, tanzten in der Luft und verschwanden wieder. Flügelschlagende Wesen huschten von Blüte zu Blüte und versetzten sie unversehens in Bewegung. Doch abgesehen von der Hummel, die laut brummend näher kam, war kein Geräusch zu hören.

Zaunkönige flogen heran und wieder davon. Meine Anwesenheit machte sie nervös. Besorgt verließen ihre Tundraverstecke, weil sie fürchteten, dass ich ihre Nester plündern würde; sie wollten mich ablenken. Doch ihre Angst war unbegründet, ihre geschickt versteckte Gras- und Zweigflechtkunst würde ich sowieso nie finden.

Als ich über zwei weitere schmale Felsschultern und die dazwischenliegende Tundra weiter aufwärts stieg, überfiel mich auf einmal der Gedanke, welche Folgen meine schweren Schuhe wohl für diese empfindliche Welt hatten. Jeder Schritt schien mir übergriffig; mit einem kurzen Gewaltakt drückte ich die Pflanzen zu Boden, die hier seit Jahrtausenden ungestört lebten. Schuldbewusst drehte ich mich um, um den Schaden zu betrachten. Doch überraschenderweise war nichts zu sehen. Die feuchte, vollgesogene Welt gab unter den Schritten des wandelnden Sterblichen nach, offenbarte ihr Innerstes nach Jahrhunderten der Dunkelheit erstmals dem Tageslicht und kehrte dann wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Meine Schritte hatten in dieser Welt nicht mehr Gewicht als ein Lufthauch am Nachmittag.

Wieso in diesen hohen Breitengraden überhaupt Leben gedieh, schien auf den ersten Blick unbegreiflich. Angestrengt suchte ich nach den Gründen dafür und der Logik, die dahinter steckte. Doch als mir meine eigene Bedeutungslosigkeit langsam bewusst wurde, erkannte ich, dass die Gründe dafür allein Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit waren. Die verzerrten Vorstellungen, die ich aus anderen Kontexten mitbrachte, waren kaum mehr als ein schwaches kosmisches Hintergrundrauschen. Ich hatte noch immer nicht begriffen, wie absolut meine Unwissenheit war.

Eine halbe Stunde später stand ich vor dem letzten Felshang. Müde, verschwitzt, kurzatmig und mit schmerzenden Beinen nahm ich die letzten zehn Meter in Angriff.

Der leicht gerundete, breite Kamm bestand fast vollständig aus kahlem weißen und grauen Gneis. Nur hie und da wuchsen ein paar brüchige Flechten. Ich kletterte auf die Spitze und schaute mich um.

Mir stockte der Atem. Von Horizont zu Horizont, in einem Umkreis von fast hundertfünfzig Kilometern, sah ich nichts als unberührte Wildnis, die in all ihrer Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit vollkommen still dalag. In einer Geste der Unterwerfung streckte ich wie betäubt die Arme aus, drehte mich langsam um mich selbst und ließ den erhabenen Anblick auf mich wirken. Ein Wirrwarr der Gefühle – Trauer, Freude, Freiheit, Demut, Qual – durchflutete mich, ich spürte, wie mir die Tränen kamen.

Dann wandte ich mich zur anderen Seite um und stellte verblüfft fest, dass die Wolken genau dort endeten, wo das Land von der Eiskappe eingefasst wurde. Durch irgendein rätselhaftes atmosphärisches Phänomen lösten sich die über Land und Meer hängenden Wolken heute über dem reflektierenden Gletscher auf. Der Himmel dort strahlte in reinstem Blau, der perfekte Hintergrund für das blendend weiße rissige Inlandeis.

Die Gletscherfront zog sich als scharfe Zickzacklinie längs durchs Land, eine zerklüftete Grenze zwischen zwei gegensätzlichen Welten. An manchen Stellen ragten die kilometerlangen, bis zu hundert Meter hohen bläulich-weißen Gletscherwände in die Höhe, um sich dann in wellige Gletscherhügel und –täler zu verwandeln und mit sanftem Gleichmut an den Fels zu schmiegen.

Zu allen anderen Seiten war die Landschaft hingegen ein Mosaik aus Fjorden und Seen, Flüssen und Bergen. In den mäandernden Gewässern spiegelte sich der graue Himmel, und auf dem dunklen, schattigen Land flossen steile, parallele Bergrücken auf und ab. Felsfinger, vom ewigen Eis geformt, wiesen in Richtung Ozean, zur Davis-Meerenge. Es schien, als würde sich die Landschaft bewegen. Obwohl sich nichts rührte, verliehen ihr die fließenden Formen Dynamik.

Im Süden lag der Fjord, über den wir hergekommen waren. Wie alle Fjorde hier, strömte er in einen Felseinschnitt. Rechts und links ragten Hunderte Meter hohe Felswände empor. An manchen Stellen war er fast zehn Kilometer breit, an anderen nicht einmal zwei. Unser Camp lag zwar nah am Ufer, aber gut geschützt hinter dem ersten kleinen Bergrücken, auf dem ich jetzt stand.

Einen langen Moment stellte ich mir vor, es gäbe auf der ganzen Welt niemanden außer mir, außer dieser einsamen Menschenseele, die hier auf diesem Felsen stand, fasziniert von der verwirrenden Wildnis um sie herum. Doch auf einmal befiel mich ein vages Unbehagen, wie später noch öfter in Grönland. Es war nicht unbedingt Traurigkeit, die mich befiel, eher eine leise Sehnsucht nach etwas, für das uns die Worte fehlen und von dem die Wildnis überquillt. Ich hatte das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben, unfähig zu sein, mich wirklich tief verbunden zu fühlen, als ob das, in das ich eintauchte, in unerreichbarer Ferne funkelte.

[1] Roisin J., »La sortie du corps et autres expériences extrêmes en situation de traumatisme«, Revue francophone du stress et du trauma, 2009, 9 (2), S. 71–79.

[2] Frankl V. E., Der unbewußte Gott: Psychotherapie und Religion, München 1992.

[3] Roisin J., De la survivance à la vie. Essai sur le traumatisme psychique et la guérison, Paris 2010, S. 74.

[4] Falsetti S. A., Resick P. A., Davis J. L., »Changes in religious beliefs following trauma«, Journal of Traumatic Stress, 2003, 16 (4), S. 391–398.

[5] Jonas H., Der Gottesbegriff nach Auschwitz: Eine jüdische Stimme, a. a. O., S. 13.

[6] Falsetti S. A., Resick P. A., Davis J. L., »Changes in religious beliefs following trauma«, a. a. O.

[7] Joseph Kastersztein, Persönliches Zeugnis, Paris 2014.

[8] »Lettre de sainte Thérèse au Rev. P. Grégoire de Saint-Joseph, Rome«, in: P. Janet, De l’angoisse à l’extase, a. a. O., S. 94.

[9] Siehe: James W., Les Formes multiples de l’expérience religieuse. Essai de psychologie descriptive, Paris 2001, S. 211–271. Dt. Die Vielfalt religiöser Erfahrung: Eine Studie über die menschliche Natur, Berlin 2014. Aus dem Englischen übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut. (Zitat übersetzt von Christine Ammann)

Helen Scales

Im Auge des Schwarms

Von Fischen, dem Meer und dem Leben

Folio 2020

Zwei rote Campingstühle mit entspannten Anglern lassen mich hoffen, dass ich finde, was ich suche. Ich lehne mein Rad gegen einen Baum, setze mich an einen guten Platz und schaue. Im bräunlich trüben Wasser spiegelt sich der blaue Himmel mit Wolkenbäuschen, darunter lässt sich nichts erkennen. Über mir folgt eine Seeschwalbe dem Bachlauf, hin und wieder zurück, und quietscht ab und zu wie ein Hundespielzeug. Die Flügelspitzen sind schwarz, die Augen, mit denen sie nach Futter Ausschau hält, hinter einer schwarzen Kappe versteckt. Dann entdeckt sie etwas, stürzt abwärts, Wasser spritzt, flügelschlagend und schluckend hebt sie wieder ab. Angestrengt suche ich die Wasserstelle noch mit den Augen ab, als ganz in der Nähe ein Schwarm Jungfische in eine flache Bucht flitzt. Die Fische sind durchsichtig, mit großen, dunklen Augen. Einige kräftigere führen den Schwarm an, alle anderen folgen. Man inspiziert wassergefüllte, schlammige Fußspuren im Bachbett, die auf die Fische wie riesige Krater wirken müssen.

Sie bewegen sich zögernd und umsichtig. Schwimmen, schwimmen, Pause. Schwimmen, schwimmen, Pause.

Als ich mich vorbeuge, um besser sehen zu können, flitzen sie weg und sammeln sich um den Wedel einer Wasserpflanze. Anscheinend haben sie mich bemerkt. Bei dem Kajak, das jetzt vorbeikommt, reagieren sie wesentlich gelassener. Anscheinend sind ihre Hauptfeinde keine spritzenden Wasserviecher, sondern kommen aus der Luft und vom Ufer her. Als sich der Bach wieder beruhigt hat, steigen die Jungfische nach oben und küssen Ringe ins Wasser, die sich langsam ausbreiten.

Ich gehe am Bach entlang, vorbei an jungen Leuten, die mit Einweggrills Vierecke ins Gras brennen, an einem Mann in Badhose, der still unter tiefhängenden Ästen sitzt. Ein Pärchen lässt sich von der Sonne bescheinen und lauscht blechernen Melodien; männliche Prachtlibellen tanzen dazu. Mit ihren schimmernden, saphirblauen Körpern und den bunten Flügeln, die wie Schmetterlingsflügel flattern, versuchen sie die Weibchen zu beindrucken.

Dann sehe ich in einem ruhigen, klaren Bereich des sonst trüben Bachs zwei Fischsilhouetten stehen, mindestens handlang, die Schwanzflosse stromabwärts in Richtung Stadt gerichtet. Ich suche zwischen Disteln und Brennnesseln eine Lücke, klettere das Ufer hinab und stehe bis zu den Waden im weichen Schlick. Das Bachbett fällt steil ab, schon bald verliere ich den Halt und stürze mich ins kalte Wasser, das mir fast den Atem raubt. Meine kreideweißen Beine scheinen whiskybraun durchs Wasser. Ich lasse mich eine Weile treiben, während ich mit der Taucherbrille kämpfe, spucke und reibe, damit sie nicht beschlägt.

Es fühlt sich seltsam an, so tief zu sinken. Ich bin Salzwasser gewöhnt, das besser trägt. Und auch eine bessere Sicht. Gegen meine Taucherbrille drückt schlammiges Wasser, und ich frage mich, ob ich überhaupt etwas sehen werde. Im Hauptlauf würde ich einen Fisch wohl nur sehen, wenn er direkt vor meiner Nase vorbeikommt.

Ich schaue über das Wasser, das mit Flusen der nahen Uferweiden gesprenkelt ist, und beschließe, mein Glück am anderen Ufer zu versuchen. Ich durchquere einen silbrigen Flecken aus Wasserpest, die sich um meine Beine schlingt, zwänge mich durch überhängende Uferpflanzen und scheuche eine versteckte Moorhenne auf, die auf Augenhöhe mit ihren Küken herumkraxelt. Ein Stocherkahn kommt vorbei, weit entfernt von den Stadtcenter-Touren, der Bootsführer sagt zu seinem entspannten Kunden: „Da drüben schwimmt jemand und guckt sich den Fluss an.“ Ich antworte mit einem fröhlichen „Hallo“ und setze meine Unterwassersuche fort.

Damit ich möglichst oben schwimme, halte ich so viel Luft wie möglich in der Lunge zurück. Meine Beine sollen das weiche Bachbett nicht berühren und mir die Sicht verderben. Hier, in den ruhigen Nebengewässern mit versunkenen Ästen und Wurzeln, hat sich der Schlamm am Boden abgesetzt, und ich kann wenigstens eine Armlänge weit sehen.

Das Ganze erinnert mich daran, wie ich in Madagaskar einmal in einem Mangrovenwald schnorchelte. Die amphibischen Bäume werden zwei Mal täglich von den Gezeiten geflutet, und um die verschlungenen Wurzeln und knöchernen Stämme bildet sich dann schnell ein Wasserökosystem. Bis dahin hatte ich geglaubt, Mangroven hieße vor allem Schlamm und es gäbe im Wasser darum wenig zu sehen. Ich staunte, wie klar das Wasser war. Silbrige Fische wanden sich durch die Bäume, herumflitzende Jungschwärme teilten sich vor mir und kamen dann wieder zusammen. In dem Bach ist die Sicht nicht ganz so klar und die Unterwasserwelt nicht so geschäftig, aber auch hier fühle ich mich wie in einem Zwischenreich, das Wasser und Land verbindet.

Ich warte geduldig, dass irgendetwas vorbeischwimmt, und befürchte schon, dass mir die Fische aus dem Weg gehen. Doch dann traut sich einer und kommt langsam in Sicht, mit wedelnden Brustflossen. Er hat große, sich überlappende silberne Schuppen, rote Flossen und eine rote Gabelschwanzflosse. Es ist ein Rotauge. Die Art kommt in Eurasien von den Pyrenäen bis nach Sibirien vor, aber einen Moment lang gehört der Fisch nur mir. Er blickt mich aus einem rot umringten Auge an, ich blicke zurück und verhalte mich so ruhig wie möglich, um ihn nicht zu verjagen. In unseren wenigen flüchtigen gemeinsamen Sekunden nimmt er fünf Schlucke Wasser, wenn ich richtig zähle. Dann ein Zucken im Körper, ein Schlag der Schwanzflosse, er gleitet außer Sicht und lässt die Schwimmerin allein im Bach zurück.