Was ich so schreibe: „Leibchen“

Das Leibchen

„Nein!“ Der Junge, vielleicht vier Jahre alt, schreit aus vollem Hals. Mit rotem Gesicht wirft er sich auf Fliesenboden der Küche, strampelt, halbnackt, er trägt nur Unterwäsche, und schreit. Unverständliche Worte. Die Mutter, noch jung, steht über ihm und hält das Leibchen, so nennt sie das, in der Hand. Das Leibchen hat noch ihre Mutter genäht, aus dicker, weißer Baumwolle, vorn offen, mit einer Reihe leinenbezogener Knöpfe, wie eine Weste, ohne Ärmel.

„Es ist kalt! Ohne Leibchen gehst du mir nicht raus!“ Die Mutter zerrt den Jungen am Arm hoch, er strampelt noch immer, versucht sich zu befreien, die Mutter in die Hand zu beißen.

„Du willst doch Schlittenfahren, oder?“ An der Tür stehen die Geschwister, ein älteres Mädchen, ein noch kleinerer Junge, und schauen, die Augen aufgerissen vor Schreck.

Jetzt laufen dem Jungen Tränen über die Wangen, er steht ganz still. Starr. Während die Mutter ihm das Leibchen anzieht, das er so hasst. Knopf für Knopf zwängt sie in das Knopfloch.

Dann zieht sie dem Jungen Pullover und Hose, Jacke und Schuhe, Mütze und Handschuhe an. Er lässt es, wie eine Puppe, geschehen.

„Nun lauf schon“, sagt die Mutter, öffnet die Haustür und schiebt den Jungen nach draußen. Der Schnee fällt in großen Flocken.

„Die anderen warten schon“, ruft die Mutter noch, doch da ist der Junge schon fast nicht mehr zu sehen.

Als Erwachsener hat er lange nicht mehr an das Leibchen gedacht, bis eines Tages irgendwann, irgendwie die Rede darauf kam. „Weißt du noch?“, diese Gespräche, Sie wissen schon. Der Mann erinnerte sich an wohlige Wärme.

(Entstanden in einem Schreibseminar unter der Leitung von Marie Luise Knott und Uljana Wolf am LCB)