Was ich so schreibe – Urlaubsbekanntschaft

Mann-o-Mann, was würd’ er jetzt drum geben, sich auf seinen Liegestuhl zu fläzen, ab und zu mal aufs Meer zu schauen und ansonsten auf seinem Handy rumzudaddeln. So wie heut’ Morgen. Als das alles hier anfing. Gerade hatte er seinen Liegestuhl unter den Baum bugsiert, »Scheiß griechische Sonne!«, hatte er noch gedacht, weil er auf dem Display fast nichts erkennen konnte, da musste sein Alter wieder dazwischenfunken.
»Game over, Paul.«
»Nein, nicht jetzt.«
»Doch mein Freund. Du bist nämlich heute mit Gyros holen dran!«
Sein Vater hatte einfach kein Gefühl für Timing. Und dann ging auch noch der Alt-Hippie mit ihm durch. Guck mal, guck mal da übers Meer, quäkte er und baute sich vor ihm auf. Da drüben die Hügel, das ist die Türkei, da endet Europa. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Griechenlandurlaub, direkt am Strand, und du starrst den ganzen Tag auf dein Handy. Hallo, er war sechzehn. Und irgendwann reicht es. Also ist er aufgestanden und gegangen.
Und deshalb latscht er jetzt schon seit Ewigkeiten über diesen beschissenen, sonnigen, ekelhaft miefenden Waldweg. Vorne Bäume, hinten Bäume. Und neben ihm auch bloß Bäume. Gegen das Zikadengelärme hat er wenigstens die Ohrstöpsel und »Tim Bendzko«. Aber gegen den Saunaaufguss Marke »Kiefer« hilft nix, und heiß wie in der Sauna ist es auch. Wie spät ist es überhaupt? Schon fünf. Seine Eltern würden ihn wohl langsam vermissen. Aber was ist eigentlich mit dem Handy los? Kein Empfang! So ’ne Scheiße! Und was ist das denn? Da vorn geht doch einer. Der schleicht ja. Wird nicht lange dauern, dann hat er den eingeholt. Trotz Flipflops, die Originalen natürlich, aber die sind auch nicht gerade ideal, andauernd hat er irgendwelches Zeugs zwischen den Zehen. Und wenn ihn nicht alles täuscht, ist das auch noch dieser schwarze Loser, der mit seiner Loser-Clique ständig vorm Imbiss abhängt und die ganze Zeit mit so ’nem Messer rumfummelt. Hey, seht her, wie cool ich bin. Wie die da immer rumhampeln. Schulterklopfen, Grinsen, Händeschütteln. Was wollen die denn überhaupt hier? Tatsächlich, der schwarze Loser, und er hat wieder diese weißen Monster-Sneaker an. Und der Verschluss steht natürlich offen. Das findet der wohl geil. Die sollen doch bleiben, wo sie herkommen. Gibt doch eh keine Arbeit für die. Europa hat selber genug zu kämpfen. Und scharf auf unsere Bräute sind die auch noch. Jetzt dreht der sich glatt um. Am liebsten würde er sich in die Büsche schlagen, aber auf Schlangen hat er auch keinen Bock. Er tut einfach so, als würde er ihn nicht bemerken. Toller Ausblick hier. Wäre ein Handyfoto wert. Aber jetzt muss er aufpassen, dass der Loser ihm das Handy nicht abnimmt. Ob er es mit dem aufnehmen kann? Und wenn der sein Messer dabei hat? Er wird ihn jetzt einfach wortlos überholen. Vor dem hat er keine Angst. »Hey, man!« Wenn er dieses Pidgin schon hört. Geh einfach weiter, Paul.
»Where are you from?«
»Was geht dich das an.« Immer geradeaus starren, dann hat der gleich keine Lust mehr. Aber das Opfer bleibt stur an seiner Seite.
»Tolle Brille, Ray Ban?«
Was grinst’n der so und schlackert mit den Armen, gleich berührt der ihn noch.
»Jetzt muss ich doch glatt pissen.« Er wird jetzt den Seitenweg da nehmen. Beim Pinkeln wird der ja wohl nicht hinterherkommen. Aber vorsichtshalber dreht er sich noch mal um.
Und plötzlich liegt er am Boden, hat Dreck im Mund, und der Schmerz schießt ihm bis hinter die Augen. Der Loser beugt sich über ihn.
»Hau ab!« Instinktiv greift er nach seinem Knöchel.
»Hey, man …«
»Hau endlich ab, verpiss dich, du schwarzes Opfer!«
Endlich hat er’s kapiert. Er setzt sich vorsichtig auf. Über seinen Knöchel läuft Blut. Die Wurzel da hat er glatt übersehen. Dumm gelaufen. Ganz langsam versucht er aufzustehen, geht aber nicht. Mann, tut das weh. Wie lang’ wird es wohl dauern, bis ihn hier jemand findet?
»Ey, wach auf!« Jemand rüttelt ihn unsanft am Arm. Er muss weggedöst sein. Der Ober-Loser. Schnell zieht er den Arm weg.
»Die gute Nachricht: Ich hab’ Decken, für die Nacht, und morgen früh kommen die Touristen wieder, zu der Quelle dahinten.« Der Loser zeigt irgendwo zwischen die Bäume.
»Aha.«
Als der Loser seinen Knöchel betastet, hat er nicht die Kraft, das Bein wegzuziehen. Er presst die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien.
»Sieht nach ’nem Bruch aus.«
»Woher willst’n das wissen?«
»Weiß ich eben, von meiner Mutter.«
Dann blitzt das Messer vor seinen Augen auf.
»Ich stech dich nicht ab.« Der Loser grinst. »Ich such ’nen Ast, als Schiene.«
»Und«, dabei blickt er ihm direkt ins Gesicht, »ich bin übrigens Jack.« Der Loser streckt ihm die Hand hin.
»Paul«, sagt er, als er einschlägt.
Der Loser zieht sein T-Shirt über den Kopf und schient den Knöchel mit einem Ast und seinem Shirt. Der Schmerz lässt langsam nach. Als er sich neben ihn fallen lässt, knackt und knirscht es. Das Dunkel hüllt sie ein wie schwarze Watte.
»Was rennst du denn überhaupt hier rum, im Wald, meine ich?«, fragt er den Loser.
»Musste mal raus.«
»Aus Afrika oder was?«
Jack, so heißt der Loser ja, lacht auf, hält aber sofort wieder inne.
»Nee. Aus dem Lager, dahinten …«, flüstert er und zeigt vage in die Dunkelheit.
»Wieso flüsterst’n du so? Was für’n Lager, Mann?«
»Du flüsterst genauso, Mann. Da wohnen die Flüchtlinge, die ohne Eltern angekommen sind.«
Eine Weile schweigen sie.
»Wie alt bist’n du?«, fragt er den Loser dann.
»Sechzehn.«
»Kriegst bestimmt Ärger, wenn du abends zu spät zurückkommst, was?«
Der Loser zuckt mit den Schultern.
»Gibt Schlimmeres.«

Irgendwann in der Nacht wacht er auf. Sein Knöchel schmerzt wie Hölle. »Wie geil ist das denn!«, ruft der Loser und zerrt an seinem Arm. Er öffnet die Augen. Den Wald hat einer in dreckigem Rosa angemalt, zwischen den Bäumen steigt langsam der Mond auf. Sie starren ihn an, er scheint blutrot, morgen früh würden die Touristen wieder da sein.

(Sommer 2015)